Reisebericht von Simon und Florens, Juni-Juli 2003
Ab nach Afrika
"Mzungu, Mzungu" rufen die Kinder am Straßenrand, "How are you, how are you?" Es ist eine rhetorische Frage, und dem obligatorischen "I´m fine, how are you?" folgt eine kleiner Freudentanz. "Mzungo", das heißt auf Runyoro, der Sprache der Bunyoro im Westen Ugandas, eigentlich bloß "Engländer". Aber auf so einen feinen Unterschied kommt es nicht an. Was allein zählt ist - der eine ist weiß, alle anderen sind schwarz.
Zwei Monate, Juni und Juli 2003, verbrachten wir nach unserem Abitur beziehungsweise Zivildienst in einem Heim für bedürftige Kinder in der Kleinstadt Kagadi, Uganda. Zwei Monate, in denen wir die Attraktion für die zahlreichen Kinderscharen in den Straßen Kagadis waren, für die es ein Vergnügen ist, uns am Arm zu berühren, um zu erfahren, wie sich weiße Haut anfühlt; zwei Monate, in denen wir auch Schattenseiten Afrikas kennenlernten. Alles in allem aber zwei Monate, in denen wir eine traumhafte Zeit in einer anderen Wirklichkeit verbrachten.
Motive
Wie kamen wir darauf, freiwillig Fernsehen und warmem Duschen zu entsagen, um uns auf einen Kontinent zu wagen, über den die Zeitungen hierzulande nicht viel Gutes zu berichten wissen? Ein wertvolles halbes Studienjahr "zu verschenken" in einer Zeit, in der das Alter deutscher Hochschulabsolventen nah an ihre Lebensarbeitszeit heranreicht? So genau können wir das auch im Nachhinein selbst nicht bestimmen. Wohl aus einem diffusen Gefühl heraus, nicht der scheinbar unausweichlichen Logik der Zeitknappheit folgen zu müssen. Vor dem Eintauchen in die weite theoretischen Welt der Universität nochmal die Gelegenheit am Schopf zu packen, "raus" zu gehen, ein anderes Leben in einem anderen Teil der Welt kennenzulernen. Und dabei - nach der (Abiturs-) Büffelei ist vor der (Studiums-) Büffelei - dem Kopf eine schöpferische Pause gönnen, die Hirnzellen-Akkus aufladen, sie mit neuen Reizen auseinandersetzen. Vielleicht nicht gänzlich unerwähnt bleiben sollte auch der "handfeste" praktische Nutzen bei Bewerbungen, die einen freiwilligen sozialen Einsatz wertschätzen.
Der Verein
So machten wir uns auf die Suche nach einem geeigneten Projekt, und fanden Bernhard Kalt. Der ehemalige Heidelberger Gymnasiallehrer für Deutsch und Religion hatte nach seiner Pensionierung aus dem Bedürfnis heraus, einen bleibenden Wert zu schaffen, die Initiative ergriffen und auf eigene Faust ein Schülerwohnheim für bedürftige Kinder aus dem Boden gestampft, samt Verein, der dieses finanziell trägt.
Seit den Anfängen im Jahr 1997 hat dieser Verein Beachtliches geleistet. In Uganda, wo die siebenjährige Grundschule erst seit kurzem gebührenfrei ist, brechen sechs von zehn Kindern die Schule vorzeitig ab. Viele von ihnen müssen zum Unterhalt ihrer Familien beitragen. An der hohen Analphabetenrate wird sich so schnell nichts ändern, ebensowenig am enormen Bevölkerungswachstum, dem Höchsten selbst im kinderreichen Afrika. Das bremst die Entwicklung wie die Reduzierung der Armut.
Durch unser "Hostel For The Needy Children" haben je 20 Mädchen und Jungen, viele von ihnen Halb- oder Vollwaisen, die Möglichkeit, aus einem gesicherten Umfeld heraus die Schule zu besuchen.
Für uns als Freiwillige hat dieser Verein "Uganda-Hilfe Kagadi e.V." einen entscheidenden Vorteil: Im Gegensatz zu großen Hilfsorganisationen, die ihre Bewerber oft mit hohen Hürden konfrontieren, die Dienstleistenden gegen eine zusätzlich zu den Reisekosten anfallende Vermittlungsgebühr nur für eine Mindestzeit von 12 Monaten entsenden, öffnet sich uns der Weg in die "3. Welt" un-, ja geradezu antibürokratisch. Nach Herrn Kalts Philosophie sollen junge Wohlstandskinder, die ein Interesse für Afrika zeigen, keine zusätzlichen Steine aus dem Weg zu räumen haben. So empfängt er auch unser Ansinnen mit offenen Armen: Ihr wollt nach Uganda? Na toll, ab geht´s!
Doch sind wir trotz, oder vielleicht grade wegen dieser Einfachheit nicht frei von Zweifeln. Machen wir es uns zu leicht, überschätzen wir unsere Fähigkeiten? Schon alle Vorbereitungen müssen wir weitgehend auf uns allein gestellt übernehmen. Visum, Versicherung, welche Impfungen sind sinnvoll? Und je näher der Abflug rückt, desto drückender erreichen uns die Hiobsbotschaften aus dem benachbarten Kongo.
Ein paar Treffen in familiärer Atmosphäre mit unseren Vorgängern ersetzen die bei großen Vereinen obligatorischen Vorbereitungsseminare. Vor allem die persönliche Begleitung während der ersten beiden Wochen durch "Mr. Bernhard", wie Herr Kalt in Kagadi besser bekannt ist, erleichtert uns den Einstieg.
Er hat nicht zu viel versprochen; Viel unmittelbarer dürfte es für einen Europäer, der zum ersten mal den schwarzen Kontinent bereist, nicht möglich sein, afrikanischen Alltag zu erfahren.
Abenteuer Verkehr
Da bleibt schon bei der Anfahrt der Toyotakleinbus, das Matatu, wenige Kilometer vor unserem Zielort stehen - der Tank ist leer! Denn Benzin ist im Verhältnis unerhört teuer, und muss daher eng kalkuliert werden. Doch Improvisation ist Trumpf. Der Fahrer verschwindet im Busch, um nach einiger Zeit wieder aufzutauchen mit einer Tüte Sprit, die uns bis nach Kagadi bringen wird. Leere Tanks haben einen weiteren Vorteil - bei einem Diebstahl kommt der Wagen nie besonders weit!
Überhaupt ist der Verkehr ein kleines Abenteuer für sich - wie eine Sightseeingtour geht es für 200 Kilometer auf der Überlandstraße, einer Erdpiste, fünf Stunden durch dichtes Grün, dazwischen die immer gleich aussehenden Dörfer. Es herrscht Linksverkehr, das heißt für den seltenen Fall einer Begegnung mit einem anderen Fahrzeug weichen wir im letzten Bruchteil einer Sekunke nach links aus, ansonsten ist das eher ein "Zentralverkehr" - man fährt dort, wo es die Straße am besten und mit dem höchsten Tempo zulässt. Bremsen für Fußgänger, Radfahrer, oder gar die vielen Tiere, Ziegen, Hühner, Kühe mit ihren schier endlosen Hörnern, ist eine zivilsatorische Errungenschaft, die sich in den Köpfen der Fahrer noch nicht durchgesetzt hat.
Und eng ist es, viel zu eng, eigentlich immer. Denn, man denke an die Spritpreise, eine Fahr lohnt nur, wenn der Wagen mindestens bis auf den letzten Platz gefüllt ist, und das Fastnachtsmotto "einer geht noch rein" nehmen die Kondukteure durchaus wörtlich. So erübrigen sich auch Fahrpläne. Abfahrt ist, wenn das Fahrzeug (zu) voll ist. Da passiert es schon, dass wir einige Stunden in der Mittagssonne des Busbahnhofs auf der Rückbank schmorend zu warten haben. Doch langweilig ist es eigentlich nicht, der "New Taxi Park" gleicht einem chaotisch-geschäftigen Ameisenhaufen. Uhren-, Getränke-, Essensverkäufer sind erfreut über die potentielle weiße Kundschaft.
Eilig hat es niemand, die Afrikaner sind Weltmeister im stoischen Warten. Da können wir aus unserem abgehetzten Deutschland einiges lernen. Die Europäer erfanden die Uhr, habe ich irgendwo gelesen, die Afrikaner erfanden die Zeit.
Aufregend ist auch das Bodaboda-Fahren in der Hauptstadt Kampala. Wer auf diesen Mopedtaxis vergisst, die Beine einzuziehen, darf sich nicht wundern, am nächsten Seitenspiegel hängenzubleiben. Doch die meiste Zeit verbringen wir, weitgehend verkehrslos, in unserem Hostel For The Needy Children in Kagadi. Und auch hier sind wir "mittendrin, statt nur dabei". Besuchen die Familien der Angestellten und der Kinder, sind "welcome, most welcome". Werden, um das nochmal zu unterstreichen, von den meist sehr armen Familien mit Geschenken überhäuft, Avocados, Ananas, immer wieder Zuckerrohr, sogar ein (lebendes) Huhn ist dabei. Eine verkehrte Welt ist das, in der die Armen es sich nicht nehmen lassen, die "Reichen" zu beschenken.
Wir besuchen auch die Grundschule der Hostelkinder, wo uns der Lehrer, Mr. James, als Lehrer aus Deutschland vorstellt. Um ihn nicht bloßzustellen, versuchen wir uns im Unterrichten und freuen uns an der neuen Profession.
Weiß sein
Trotz aller Willkommenheit bleiben wir doch, unübersehbar, weiße Gäste.
Weiß zu sein, das bedeutet privilegiert zu sein. Im Sammeltaxi selbstverständlich vorne zu sitzen. (Obwohl es zu dritt neben dem Fahrer des Kleinwagens doch schon wieder ziemlich eng wird.) Grenzenlose Gastfreundschaft zu genießen, wie wir auf unserer abschließenden Reise feststellen können. In einem - sehr zum Bedauern der Offiziellen - vom Tourismus weitgehend unerschlossenen Land wie Uganda sind die Einheimischen Fremden gegenüber sehr aufgeschlossen, sichtlich erfreut darüber, dass überhaupt einer die Strapazen auf sich nimmt, ihr Land zu besuchen. Als Weitgereiste verkehren wir, quasi per Hautfarbe, auf Augenhöhe mit dem Bischof.
Weiß zu sein bedeutet aber auch, stets das lohnende Opfer zu verkörpern, und sei es nur für eine kleine Gaunerei und überhöhte Preise, die man den schlitzohrigen Straßenhändlern nicht mal verdenken kann. Dabei mag unsere Hautfarbe unterschiedlich sein, es fließt doch in unseren Adern das gleiche rote Blut - erklärt uns ein junger Mann in Kampala, während er uns ein Stück Bindfaden für mehrere Euro verkaufen will. Schwarz anmalen müsste man sich können, nur für ein paar Tage, ein paar Stunden, um zu sehen, wie das dann ist, in Uganda.
Signifikant bleibt bei aller Selbstbeschränkung, der wir uns um der Anpassung willen gerne unterwerfen, ein kleiner feiner Unterschied: Wenn wir mit einem Hauch bäuerlicher Romantik zur Pumpe marschieren, um für unsere von Hand zu waschende Wäsche einige Liter Wasser zu Tage zu fördern, machen wir das, weil wir es so gewollt haben - und für einen sehr begrenzten Zeitraum. Die Kinder, hinter denen wir in der Schlange anstehen, haben keine andere Wahl - ihr ganzes Leben lang. Und selbst für diese mickrigen zwei Monate bewegen wir uns, obwohl Tür an Tür schlafend, auf einem anderen Level. Sind geimpft, versichert, und können jederzeit die Not-Reißleine "vorzeitiger Abflug" ziehen.
Dass wir, nach einigen Tagen der Eingewöhnung die empfohlenen übermäßigen Vorsichtsmaßnahmen nach und nach über Bord werfend, barfuß herumlaufen, wo wir uns doch Schuhe leisten könnten, bleibt den Einheimischen sowieso absolut unverständlich.
Dabei sind diese allgemeinen Betrachtungen nur ein Nebenprodukt unserer eigentlichen Beschäftigung: Ist doch der Besuch junger Freiwilliger unverzichtbar für die Kommunikation zwischen Verein und dem Projektpartner vor Ort, der katholischen Pfarrgemeinde. So ist gewährleistet, dass der Kontakt lebendig bleibt, und die Spendengelder sinnvoll eingesetzt werden.
"Arbeiten" mit den Kindern
Neben dieser wichtigen "Kontrollfunktion" widmen wir uns aber hauptsächlich sozialpraktischen Aufgaben, beschäftigten uns also mit den Kindern. Unsere "Arbeit" besteht in diesem Fall aus Spielen, Freundschaften schließen, aber auch Nachhilfe, besonders in Englisch, zu geben. Denn da die Lehrer den Schulunterricht fast ausschließlich in Englisch halten, ist es logischerweise für die Kinder unverzichtbar, zumindest einfache Fragen verstehen und beantworten zu können.
In der Praxis sieht das freilich etwas anders aus. So individuell jedes einzelne Kind ist, so unterschiedlich sind die Fähigkeiten im Umgang mit der fremden Sprache. Denn obwohl Englisch die offizielle Landessprache ist, wird sie in den einfachen Familien, denen unsere Kinder entstammen, von den Wenigsten beherrscht. (Entsprechend wenig bekommen diese Familien von der Politik ihres Landes mit.) In den viel zu großen Schulklassen können selbst engagierte Lehrer nicht auf die langsamen Lerner Rücksicht nehmen.
Doch gerade für die Schwachen ist es wichtiger denn je, ihren Rückstand in Verstehen, Lesen und Ausdruck aufzuholen, um sich zunächst in der Schule, später im Geschäftlichen, behaupten zu können. Im Hostel-Alltag ist das strikte English-only noch ein Wunschtraum (selbst unsere Köchinnen und Arbeiter haben da zum Teil große Schwierigkeiten) - doch ist jede gelungene Konversation ein kleines Erfolgserlebnis auf dem Weg zum fließenden Sprechen und Verstehen.
So sehen wir unsere pädagogische Hauptaufgabe darin, Nachhilfe in Englisch und Mathematik zu geben. Für die Sprache bedeutet das das einfache "Konzept", soviel wie möglich mit den Kindern ins Plaudern zu kommen, zunächst auch mal ihr Vertrauen zu gewinnen, was natürlich am besten übers Spielen funktioniert. Denn während einige von Anfang an kontaktfreudig sind, müssen wir uns bei anderen lange mühen, die manchmal harte Schale "zu knacken", Scheu und Hemmungen uns Fremden gegenüber abzubauen Während der langen Schultage unserer Schützlinge (von 8 bis 17 Uhr!) schauen wir neben zahlreichen - zum Teil lesend in der Hängematte verbrachten - Mußestunden, wie wir organisatorisch dazu beitragen können, das das Projekt auch weiterhin prosperiert. Wir erfahren, dass die Investitionen der vergangenen Jahre das Hostel in Kagadi fest haben Wurzeln schlagen lassen. Die große Herausforderung für die nächste Zeit wird sein, unseren Kindern Perspektiven über die Schule hinaus aufzuzeigen. Problematisch wird es im Januar 2005, wenn voraussichtlich gleich elf Schulabgänger wissen wollen, wie es mit ihnen weitergeht.
Gleichzeitig ist dieser "Entwicklungshilfedienst" wie Abenteuer-Ferien auf dem Bauernhof - nur dass im Feld neben Mais und Bohnen die Mangos, Ananas, Papayas wachsen, und Schweine im Kofferraum oder auf dem Beifahrersitz transportiert werden. Ganz nebenher lernen wir, Ratten zu erschlagen und Hühner verkaufsgerecht zu verschnüren.
Nur etwa 200 km Luftlinie westlich sichern französische Soldaten den "Frieden" im benachbarten Kongo. Und wir leben in einem kleinen Paradies. Welten liegen dazwischen.
Der Besuch des Mr. Bush
Aber auch das stabile Uganda ist nicht frei von Problemen: neben der allgemeinen Armut beschäftigt besonders der seit Jahrzenten schwelende Bürgerkrieg im Norden die Politik. Und Aids ist, wie in allen afrikanischen Staaten, derart weit verbreitet, dass schon die Volkswirtschaft am Schrumpfen der gewerblich aktiven Bevölkerungsschicht spürbar leidet. Aids trifft besonders die Jungen, die Lehrer, die Farmer. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei nur 44 Jahren.
Doch seit der Machtübernahme des Präsidenten Museveni im Jahre 1986 gibt es Fortschritte zu verzeichnen. Zwar war seine Machtübernahme wie die meisten in Afrika keine friedliche (im Guerillakrieg besiegte er die Nachfolger des berüchtigten, erst kürzlich im saudischen Exil verstorbenen Idi Amin) und herrscht bis heute - gewählt - in einer zumindest ungewöhnlichen "Kein-Parteien-Demokratie". Doch gilt besonders seine Kampagne zur Bekämpfung von HIV-Neuinfizierungen als vorbildlich. Das brachte Uganda immerhin Beachtung während der Afrikareise George W. Bushs ein - nach Bill Clinton erst der zweite amtierende US-Präsident, der den schwarzen Kontinent betritt.
Ganze vier Stunden weilt Mr. Bush in Flughafennähe auf ugandischem Boden. Das Land überschlägt sich vor Begeisterung, teert die Straßen, die der Präsident möglicherweise zu befahren gedenkt, und rodet Bananenplantagen der Kleinbauern, die den Blick auf das prestigeträchtige Aids-Krankenhaus verstellen.
In Kagadi, immerhin größte Stadt im Kibale District, ist von dieser Aufregung nichts zu spüren. Hier sind die Beatles unbekannt, Italien ist kein Begriff, und George W. Bush, naja, den Namen hat man zumindest schon mal gehört. Abgeschieden von der weiten Welt lebt es in seinem eigenen Rhytmus und gibt uns Ausländern die Möglichkeit, die kulturellen Unterschiede zu erleben, sei es der höfliche Kniefall der Frauen zu Begrüßung, sei es die unglaubliche Langsamkeit, oder ist es bloß Gelassenheit?
Letztendlich haben wir uns bewiesen, das uns ein paar Schlaglöcher und der obligatorische Durchfall nicht umwerfen, wir haben weit weniger geschwitzt und gehungert als erwartet und betrachten nun die ein oder andere Verspätung der Deutschen Bahn und die Reform des deutschen Sozialstaats in neuer Relation.